Schlagwörter
BRD, Chemnitz, DDR, EOS, Feiertagsgeschichte, Karl-Marx-Stadt, Klassentreffen, Lebensläufe, Polarkreis, Sowjetunion
Gunnar lebte nun schon seit 1991 am Polarkreis in Norwegen. Nach dem Studium in Nowosibirsk hatte er noch zwei Jahre in der DDR gearbeitet und dann diese Stelle bekommen. Sein Ingenieurstitel (Spezialisierung auf Förderanlagen für flüssige und gasförmige Rohstoffe) hatte die Norweger beeindruckt.
Die waren auch nicht verstört, als er sein Abiturzeugnis der EOS „Hermann Matern“ Karl-Marx-Stadt mitschickte.
Er hatte sich also mit Zeugnissen beworben, die aus Staaten stammten, die nicht mehr existierten. DDR und Sowjetunion gab es nicht mehr, selbst Karl-Marx-Stadt war verschwunden.
Er war seit 1991 nie wieder zurückgekehrt; er wußte nur aus Erzählungen von Besuchern und aus dem Internet, was seitdem in seiner Heimat passiert war.
Und nun lag diese Einladung vor ihm: Klassentreffen am 26.12.2014 in Chemnitz.
1979 habe ich das Abitur gemacht. Und seitdem keinen mehr gesehen. 35 Jahre – spinnen die? Ich weiß ja nicht einmal, wie die alle hießen. Und dann noch Weihnachten. Was wird Frigga dazu sagen?
Frigga war seine norwegische Ehefrau, mit der er zwei Kinder hatte. Sie hatten viel erreicht. Ein großes Wohnaus und auch drei Ferienhäuser zur Vermietung. Die beiden Kinder studierten in Oslo. Frigga arbeitete als Ärztin in der Klinik. Noch 10 Jahre, dann würden sie sich beide zur Ruhe setzen.
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Derweil saß Olaf in seiner Einzimmerwohnung im Plattenbau am Rande von Chemnitz und las die gleiche Einladung. Olaf hatte nach dem Abitur Ökonomie studiert und war in Karl-Marx-Stadt geblieben. Er bekam eine gute Stelle in einem Textilwerk. 1990 war dann Schluß.
Olaf begann bei einer Versicherung im Außendienst und war nach fünf Jahren ausgebrannt. Er brauchte fünf weitere Jahre, um sich zu erholen. Frau oder Kinder hat er nicht. Wie auch. Er hielt sich gerade so über Wasser. Als dann 2005 Hartz IV eingeführt wurde, zog es ihn völlig nach unten.
Seitdem bekam er nur schlechtbezahlte und kurzfristige Jobs. Olaf kratzte sich sein unrasiertes Kinn und dachte darüber nach, was er über die anderen wußte.
Von 22 Mitschülern waren noch drei in Chemnitz. Einer in Kanada, einer in Australien, zwei in Italien, einer in Norwegen, drei in Schweden – der Rest irgendwo in Westdeutschland. Die beiden in Chemnitz hatten einen Job: Ulrike beim Arbeitsamt und Holger beim Finanzamt.
Und ich bin auf Hartz IV. Was soll ich da? Mich blamieren? Außerdem habe ich die meisten seit 35 Jahren nicht gesehen. Worüber soll ich mit denen reden? Was soll ich anziehen?
Irgendwie wurde ihm plötzlich übel. Wahrscheinlich war der Alkoholpegel gesunken. Olaf ging zum Kühlschrank und griff sich die Weißweinflasche.
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Wir werden nicht erfahren, ob die beiden zum Klassentreffen gehen. Ich überlasse es eurer Phantasie.
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Frohe Weihnachten!
Man muß nicht sehr phantasievoll sein um wissen, wie dieses Treffen ausgeht und wer da überhaupt hingeht. Unser Klassentreffen (aus der Schulzeit bis 1970) fand mit 7 Leuten statt. Mir war es zu weit weg und 750 km fährt man nicht einfach so mal da hin, außerdem bekam ich nicht frei von der Maloche.
Wieder so eine nachdenkliche Geschichte von dir – aber sie passt.
In diese traurige Zeit.
Huch!!! Und dir wünsche ich natürlich ein paar entspannte Feiertage. Erhole dich etwas – du wirst hier noch gebraucht. 😉
Lieber Ossi, was für eine traurige Geschichte von zwei traurigen Gestalten. Leider ist das die traurige Realität. Jedenfalls ein Teil davon. Als im Osten geschulter Dialektiker kenne ich aber auch die andere Seite der Medaille.
Gunnar hängt seit über zwanzig Jahren bei langer Kälte und Dunkelheit im seinem Hamsterrad am Polarkreis fest. An Geld mangelt es ihm nicht, aber ist er deshalb glücklich? Sind Haus und Ferienhäuser ein Ersatz für die verlorene Heimat, für ein Leben ohne die fernen Freunde und Verwandten? Seine Frau, die Ärztin, weiß hoffentlich Rat bei Depression und Alkoholproblemen, der Volkskrankheit Nr. 1 im Fernen Norden und im Fernen Osten.
Und Olaf grämt sich, dass niemand bereit ist ihn auszubeuten. Obwohl reich an Freizeit ist er unglücklich. Denn der einzige gesellschaftliche Wert, den er trotz guter Ausbildung kennt, ist die Arbeit. Anstatt den Reichtum an Zeit für sich und andere zu nutzen, sucht er Trost im Alkohol. Dabei gibt es Millionen Menschen, denen es so genauso geht wie ihm. Wahrscheinlich hat auch Olaf einen PC. Warum kommt er nicht auf die Idee, „glückliche Arbeitslose“ in die Suchmaschine einzugeben? Vielleicht würde ihm das helfen.
Die Gedanken von Gunnar und Olaf kreisen um Arbeit und Konsum. Jeder will mithalten beim Rennen der Idioten und fühlt sich als Versager, wenn die Kraft nicht reicht. Dabei müßte eigentlich jeder wissen, der in der DDR zur Schule gegangen ist, wohin Konkurrenzdruck und ständige Effizienzsteigerung führen. Arbeitslosigkeit kann und soll nicht abgeschafft werden in diesem kapitalistischen System. Computer und Maschinen arbeiten schneller, besser und billiger als Menschen. Die Automatisation ist immer ein Traum der Menschheit gewesen. Auf die Frage wohin mit den Überflüssigen, gibt das System keine Antwort.
Dabei wußte der Glückliche Arbeitslose Aristoteles schon vor 2300 Jahren:
„Wenn jedes Werkzeug seine eigene Funktion selbst erfüllen könnte, wenn zum Beispiel das Weberschiffchen allein wirken könnte, dann würde der Werkmeister keine Gehilfen brauchen, und der Herr keine Sklaven.“
Mir hat man füher in der Schule beigebracht, dass sich Geschichte nach vorne entwickelt (vom Niederen zum Höheren). Das war offensichtlich falsch. Das Rad der Geschichte wird im Eiltempo zurückgedreht. Die Sklaverei und Barbarei werden wir auch bei uns noch real erleben. In anderen Teilen der Welt war sie nie verschwunden.
Und wo bleibt das Positive? Die andere Seite der Medaille?
Ich bin immer wieder erstaunt über die hohe Diskussionskultur in den 70er Jahren:
„Vor dreihundert Jahren guckten die Bauern neidisch das Schloß des Fürsten an. Mit Recht fühlten sie sich von seinem Reichtum, seiner Edelmuße, seinen Hofkünstlern und Kurtisanen ausgeschlossen. Nun, wer möchte gern wie ein gestreßter Manager leben, wer will sich den Kopf mit seinen sinnlosen Ziffernreihen vollstopfen, seine blondgefärbten Sekretärinnen ficken, seinen gefälschten Bordeaux trinken und an seinem Herzinfarkt verrecken? Von der herrschenden Abstraktion schließen wir uns freiwillig aus. Eine andere Art Eingliederung wünschen wir uns.“
Zum Glück gibt es aber einige Menschen, die die ihnen zugedachte Opferrolle nicht annehmen und beschlossen haben, Glückliche Arbeitslose zu werden. Peter-Paul Zahl veröffentlichte 1973 in West-Berlin eine Zeitschrift, „Der Glückliche Arbeitslose“, in der er das Motto „Berufsverbot für alle“ propagierte:
http://www.satt.org/gesellschaft/glar_1.html
„Weinerliche Versuche, das Mitleid dieser Welt zu erregen, erregen höchstens Mitleid. Nur ein erhabenes Lachen kann Moral ernsthaft außer Kraft setzen.“ :-))
Fröhliche Weihnachten allen Ossis und Nichtossis 😉